Freitag, 9. Februar 2007
Das Einhorn war nie lebendig zu fangen
Video "Letztes Einhorn" von Youtube
http://www.youtube.com/watch?v=Nunmv3bTwjA
Leseprobe aus der CD-ROM "Monstern auf der Spur" des Wissenschaftautors Ernst Probst:
Wiesbaden (tier-news) - Das Einhorn gleicht dem Pferde, ist nur ein wenig größer, weiß am Körper und rötlich am Kopf. Seine Augen sind blau und auf der Stirn trägt es ein einziges, mächtiges, eine Elle langes Horn. Das Horn ist unten zunächst weiß, dann schwarz und an der Spitze feuerfarben“. So beschrieb im Detail wahrscheinlich als erster der Leibarzt der Perserkönige Artaxerxes II. und Darios II., Ktesias von Knidos, um 400 vor Christus das Einhorn. Die Legenden von diesem merkwürdigen Fabeltier geisterten mehr als 2000 Jahre lang durch die menschliche Phantasie, bis es endlich als nicht existent entlarvt wurde.
Becher, die aus dem Horn eines Einhorns angefertigt werden, so sagte der erwähnte griechische Arzt, schützten den Trinker vor Gift und Epilepsie. Das auch als „indischer Esel“ bezeichnete Tier sei jedoch außerordentlich schwer zu jagen, da es „ungemein flüchtig“ wäre. Es sei daher nie lebendig zu fangen. Später kam die Mär auf, das scheue Geschöpf lasse sich nur zu Füßen einer Jungfrau, von deren Unberührtheit es magisch angezogen werde, gefangen nehmen.
Beiläufig und trocken erwähnte der römische Feldherr Cäsar (100–44 v. Chr.) das Einhorn in seinem Bericht „Der gallische Krieg“, in dem er seine Feldzüge gegen die Kelten schilderte. Er hatte Geschichten gehört, dass solche seltsamen Wesen im so genannten „Herzynischen Wald“ lebten, der so groß war, dass ein Reisender ihn nicht in 60 Tagen durchqueren konnte. Cäsar notierte über das Einhorn: „Es sieht aus wie ein Hirsch, auf dessen Stirn in der Mitte zwischen den Ohren ein einziges Horn wächst, länger und gerader als alle Hörner, die wir kennen“.
Vermutlich um 200 n. Chr. verbreitete das Buch mit dem Titel „Physiólogus“ die Kunde vom Einhorn weiter. Dieses Werk der Natursymbolik entstand in Alexandria (Ägypten). Von einem Priester im Jahre 1130 stammt eine andere Beschreibung des Einhorns und zwar jenes Exemplars, welches die Königin Kendace einst Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.), dem Eroberer Indiens, geschenkt haben soll. Dieses Tier hatte angeblich einen Pferdeleib, den Schwanz eines Schweins, den Kopf eines Hirsches und die Füße eines Elefanten und trug ein großes langes Horn auf der Stirn.
Doch was da beschrieben wird, war wahrscheinlich nichts anderes als das auch uns bekannte Indische Nashorn: Der schwedische Zoologe und Autor Bengt Berg (1885–1967) meinte dazu in seinem Buch „Meine Jagd nach dem Einhorn“, der gerundete Bauch und die Lenden des Nashorns erinnerten in der Tat an das Bild eines Pferderumpfes, und der Schweineschwanz sei gleichfalls eine treffende Kennzeichnung, ebenso wie der Vergleich mit den plumpen, schweren Elefantenfüßen. Auch für die von Ktesias erwähnte weiße Farbe des Einhorns hatte Berg eine plausible Erklärung parat: Der getrocknete Schlamm, der das aus der Suhle kommende Tier überdeckt, lässt das Nashorn für den Betrachter weiß erscheinen, sagte er.
Aus heutiger Sicht erinnern auch die Beschreibungen des Einhorns von Aristoteles, Plinius und Aelianus an das Indische Nashorn. Da dieses Tier jedoch erst sehr spät nach Europa kam, konnten unsere Vorfahren mit solchen Schilderungen nichts Rechtes anfangen, so dass schließlich ein rein phantasiemäßig geschaffenes Fabeltier entstand, meinte Othenio Abel (1875–1946), der frühere Direktor des Paläontologischen Instituts der Universität Göttingen, in seinem Werk „Vorzeitliche Tierreste im deutschen Mythus, Brauchtum und Volksglauben“.
Der berühmte Holzschnitt von Albrecht Dürer (1471–1528), welcher ein Indisches Nashorn zeigt, entstand nach einer Zeichnung, die der Maler vermutlich 1515 aus Portugal erhalten hatte. Erst viel später, nämlich 1747, wurde das erste Indische Nashorn in Deutschland gezeigt.
„Die Vorstellung von der Existenz des Einhorns, dessen bezeichnendes Merkmal ein langes, steil von der Stirne in die Höhe ragendes Horn sein sollte, ist dem germanischen Kulturkreis ursprünglich ganz fremd gewesen und erst spät bei uns eingebürgert worden“, schrieb Othenio Abel. Die Gestalt des Einhorns sei orientalischen Ursprungs und habe nur allmählich auf dem Umweg über die Gelehrtenstuben und die Mönchszellen des Mittelalters ihren Weg in das Volk gefunden, sich dann jedoch zäh behauptet.
Dem Horn des sagenhaften Tieres schrieb man im Mittelalter große Wunderkraft zu. Es reinigte angeblich Wasser, und Waldtiere tranken nur aus einer Quelle, in die das Horn getaucht wurde. Der Hornsubstanz traute man ferner zu, Gift in Speisen und Getränken erkennbar zu machen, was sie bei Herrschern und anderen Reichen, die Anschläge auf ihr Leben fürchteten, sehr begehrt machte. Außerdem galt das seltene Horn als unfehlbares Mittel gegen Biss und Stich sowie zur Erhaltung und Kräftigung der männlichen Potenz.
Um Schaden von sich fernzuhalten, trug man als Schmuckstücke gestaltete Einhornsplitter als Talisman. Die vermeintlichen Hörner der Wundertiere gelangten oft in die Sammlungen von Kirchen und Schlössern. In der Markuskirche von Venedig beispielsweise bewahrt man sieben solcher Hörner auf. Und das Londoner Victoria-and-Albert-Museum ist stolz auf ein mit romanischen Schnitzereien verziertes Narwalhorn.
Natürlich fand das Einhorn auch in der Kunst Eingang. Die berühmtesten Darstellungen solcher Fabeltiere sind auf einer Serie von insgesamt sechs Gobelins aus dem 15. Jahrhundert im Pariser Cluny-Museum zu bewundern. Durch die Einhorn-Teppiche im Cluny-Museum wurde der französische Dichter, Maler, Komponist und Filmregisseur Jean Cocteau (1889–1963) zu seinem Ballett „Die Dame und das Einhorn“ inspiriert. In diesem Werk nimmt das Einhorn nur aus der Hand einer Jungfrau Futter entgegen. Es stirbt, nachdem sich die Jungfrau einem Ritter hingegeben hat.
Einen Hauch von Erotik strahlen zwei um 1500 entstandene Gemälde in der Engelsburg von Rom aus: Sie präsentieren zwei nackte Damen mit Einhorn. Im frühen 17. Jahrhundert wurde das Einhorn als Sternbild üblich. 1603 sah man es auf einem Globus des holländischen Theologen und Kartographen Petrus Plancius und 1624 im „Planisphärium“ des Straßburger Mathematikprofessors Jakob Bartsch. Allgemein üblich wurde es aber erst, seit es 1690 in den Sternkarten des deutschen Astronomen Johannes Hevelius (1611–1687) in Danzig erschienen ist. Aus welchem Grund das Einhorn zum Sternbild zwischen Orion und kleinem Hund erkoren wurde, weiß man nicht.
Manche unserer Vorfahren glaubten sogar allen Ernstes daran, dass das Einhorn einst in Deutschland existiert habe. Als man im 17. Jahrhundert in einer großen Höhle bei Scharzfeld im Südharz, die schon im Mittelalter von Entdeckungslustigen durchwühlt wurde, merkwürdige unbekannte Knochen und Zähne fand, galt es rasch als sicher, dass sie nur vom Einhorn stammen konnten.
Da die Wunderdoktoren jener Zeit den zu Pulver zermahlenen tierischen Resten aus der Einhornhöhle bei Scharzfeld heilende Kräfte zuschrieben, begann damit ein schwunghafter Handel. „Die in der Höhle gefundenen Knochen und Zähne werden in ganz Deutschland zum Arzneigebrauch verhandelt, und da jeder nach Belieben dort gräbt, so wird dieser merkwürdige Stoff in dem engen Raum wohl bald erschöpft sein.“ Diese Zeilen verfasste der in Hannover wirkende Universalgelehrte und Staatsmann Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der um 1700 die Einhornhöhle bei Scharzfeld besuchte. Leibniz glaubte noch an die Existenz des Einhorns. Heute weiß man, dass die so genannte Einhornhöhle bei Scharzfeld in der Urzeit viele Jahrtausende lang Bären und anderen Tieren Unterschlupf gewährte. Ihre Knochen, die man in großer Zahl fand, hielt man fälschlich für die des Einhorns.
In den Apotheken des Mittelalters wurde das aus zerstoßenen vermeintlichen Einhornknochen hergestellte Pulver mit Gold und Silber aufgewogen, weil das „gegrabene Einhorn“ – auch „Unicornu fossile“ genannt – als eine Art Allheilmittel galt. Viele Apotheken in Deutschland und in den Alpenländern wählten deswegen das Einhorn zu ihrem Wappentier.
Das „gegrabene Einhorn“, auch als „echtes“ Einhorn bezeichnet, bestand aus Mammutstoßzähnen, deren wahre Herkunft man nicht kannte. Als „falsches“ Einhorn oder „See-Einhorn“ apostrophierte man dagegen die spiralförmigen Spieße der männlichen Narwale, die durch verschiedene Händler ins Land gebracht wurden.
Da die seltenen Mammutfunde auf Dauer die enorme Nachfrage nach „echten“, Einhörnern nicht decken, konnten, suchten Händler und Apotheken nach Ersatz und fanden ihn in Gestalt von Eckzähnen der in deutschen Höhlen überaus reichlich vorkommenden Höhlenbärfossilien. Aber diese Zähne glichen nicht sehr dem langen spitzen Horn, wie es angeblich auf der Stirn des Einhorns stand. Deshalb besann man sich erneut auf Ersatz und führte in immer größerer Zahl die gedrehten Stoßzähne des nordischen Narwals nach Deutschland ein. Doch bald merkten die Kunden den Schwindel und glaubten auch, dass die aus dem, Norden stammenden, für viel Geld gekauften Narwalzähne doch nicht so wirksam seien wie die „gegrabenen“ Einhörner. Geheilt wurde wohl kaum ein Patient, ob er nun „echtes“ oder „falsches“ Einhorn als Medizin einnahm. Vermutlich wird die Einbildungskraft das meiste genutzt haben.
Angesichts der allgemeinen Hochschätzung des Einhorns im 17. Jahrhundert nimmt es nicht wunder, dass die angebliche Entdeckung eines Einhorns in deutschen Landen ungeheures Aufsehen erregte. Kein Geringerer als der berühmte Erfinder der Luftpumpe, der Magdeburger Bürgermeister Otto von Guericke (1602–1686), berichtete später über diesen sensationellen Skelettfund aus einer Gipsdoline auf dem Zeunickenberg bei Quedlinburg. Er fertigte davon eine Zeichnung an, die er Leibniz zukommen ließ. In Wirklichkeit handelte es sich, wie man heute weiß, um Überreste vom Mammut.
Der Magdeburger Bürgermeister hatte ein seltsames Tier gezeichnet: Es stand nur auf zwei Beinen und stützte sich mit einem langen Schwanz ab. Heute weiß man, dass Guericke die beiden Vorderbeine des Einhorns aus vier(!) Oberschenkelknochen vom Mammut konstruiert hatte. Jahrzehnte später verwies der französische Anatom und Begründer der vergleichenden Paläontologie (Lehre vom Leben in der Vorzeit), Georges Cuvier (1769-1832), das Einhorn in das Reich der Fabel. Aber auch er irrte: Cuvier bezeichnete das Einhorn nämlich als ausgestorbenes Wollnashorn, anstatt es – was richtig gewesen wäre – als Mammut zu bestimmen.
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Ernst Probst ist Autor der CD-ROM „Monstern auf der Spur. Wie die Sagen über Drachen, Riesen und Einhörner entstanden“. Von ihm stammen auch die Audio-CD-ROM „Nessie. Das Monsterbuch“ und das Taschenbuch „Rekorde der Urzeit“.
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