Dienstag, 1. Mai 2007

Brehms Tierleben: Narwal















Gewichtige Merkmale trennen den Narwal (Monodon monoceros), das "Seeeinhorn", so weit von den übrigen Zahnwalen, daß man eine eigene Familie auf ihn begründet hat. Das Gebiß unterscheidet sich von dem aller übrigen Wale durch zwei mächtige, zwei bis drei Meter lange, verhältnismäßig aber schwache, von rechts nach links gewundene, innen hohle, wagerecht im Oberkiefer stehende Stoßzähne, von denen in der Regel einer, und zwar der rechtsseitige, verkümmert, und welche beim Weibchen nur ausnahmsweise zu einer beschränkten Entwicklung gelangen, kennzeichnet sich auch außerdem durch zwei kleine Vorderzähne und einen Backenzahn im Oberkiefer, welche jedoch nur bei jungen Thieren regelmäßig gefunden werden. Der Unterkiefer trägt niemals Zähne. Der walzige, vorn abgerundete Kopf nimmt etwa ein Siebentel der Gesammtlänge des langgestreckten, fast spindelfönmigen Leibes ein; die sehr kurze, breite und dicke, rechtsseitig etwas verkürzte Schnauze scheidet sich nicht von der flachen Stirne und fällt nach vorn hin fast senkrecht ab; das Auge liegt tief an den Kopfseiten, wenig höher als die Schnauzenspitze, das sehr kleine Ohr etwa 15 Centim. weiter nach hinten, das halbmondförmige Spritzloch auf der Stirnmitte zwischen den Augen. Eine Rückenfinne fehlt, wird aber durch eine Hautfalte angedeutet; die Brustflossen sind etwa im ersten Fünftel des Leibes eingelenkt, kurz, eiförmig und vorn dicker als hinten; die sehr große Schwanzfinne zerfällt, weil sie in der Mitte einen tiefen Einschnitt zeigt, in zwei große Lappen. Die Färbung der glänzenden und weichen, sammtartigen Haut scheint, je nach Geschlecht und Alter, nicht unerheblichen Veränderungen unterworfen zu sein. Beim Männchen heben sich von der weißen oder gelblichweißen Grundfärbung zahlreiche, unregelmäßig gestaltete, meist längliche, aber verhältnismäßig große dunkelbraune Flecken ab, welche auf dem Rücken am dichtesten, auf dem Bauche am dünnsten stehen und am Kopfe fast ineinander verfließen; beim Weibchen sind die Flecken kleiner und dichter gestellt als beim Männchen; junge Thiere endlich sehen noch dunkler aus als alte.

Albertus Magnus erzählt von diesem Thiere und bezeichnet es als einen Fisch, welcher ein Horn an der Stirne trage, womit er Fische und gewisse Schiffe zu durchbohren vermöge, aber so faul sei daß diejenigen, welche er angreife, leicht entfliehen könnten. Ein späterer, unbenannter Schriftsteller versichert, daß gedachtes Meerungeheuer große Schiffe durchbohren, zerstören und dadurch viele Menschen zu Grunde richten könne; doch habe die Liebe des Schöpfers dieses Scheusal so langsam erschaffen, daß die Schiffer, wenn sie es sähen, Zeit hätten, zu entfliehen. Rochefort gibt die erste gute Abbildung und zuerst die Erzählung, laut welcher unser Wal sein Horn zum Kampfe gegen andere Walfische gebrauchen, damit aber auch das Eis zertrümmern soll, weshalb man viele mit abgebrochenen Zähnen finde. Erst Fabricius bezweifelt, daß der Narwal Schollen und andere Fische, welche seine Nahrung bilden, mit dem Zahne ansteche und denselben dann in die Höhe richte, bis seine Beute allmählich gegen das Maul rutsche, so daß er sie endlich mit der Zunge einziehen könne. Scoresby endlich stimmt mit denen überein, welche den Stoßzahn als nothwendiges Werkzeug zur Zertrümmerung des Eises ansehen. Wir unsererseits dürfen in diesem Zahne wohl nur eine Waffe sehen, wie sie das männliche Geschlecht so oft vor dem weiblichen voraus hat, wüßten es uns sonst wenigstens nicht zu erklären, wie das jener Meinung nach entschieden benachtheiligte, unbezahnte Weibchen sich helfen könnte, wenn die von den genannten Schriftstellern erdachten Nothfälle eintreten sollten.

Der Narwal, ein Bewohner der nördlichen Meere, wird am häufigsten zwischen dem 70. und 80. Grade der nördlichen Breite getroffen. In der Davisstraße, in der Baffinsbai, in der Prinzregenten-Einfahrt, im Eismeere zwischen Grönland und Island, um Nowaja Semlja und weiter in den nordsibirischen Meeren ist er häufig. Südlich des Polarkreises kommt er selten vor: an den Küsten Großbritanniens strandeten, so viel mir bekannt, in den letzten Jahrhunderten nur vier Narwale ; an den deutschen Küsten wurden nur im Jahre 1736, aber zweimal, solche beobachtet und erlegt. In seiner Heimat begegnet man ihm fast ausnahmslos in zahlreichen Herden; denn er steht an Geselligkeit hinter keinem einzigen seiner Verwandten zurück. "Gelegentlich seiner Wanderungen", sagt Brown, "habe ich solche Herden gesehen, welche viele tausende zählten. Zahn an Zahn und Schwanzfinne an Schwanzfinne, so zogen sie nordwärts, einem Reiterregimente vergleichbar, anscheinend mit größter Regelmäßigkeit auf- und niedertauchend und in Wellenlinien ihre Straße verfolgend. Solche Herden werden nicht immer nur von einem und demselben Geschlechte gebildet, wie dies Scoresby annahm, bestehen vielmehr aus Männchen und Weibchen, bunt durcheinander gemischt."

Seegurken, nackte Weichthiere und Fische bilden die Nahrung des auffallenden Geschöpfes. Scoresby fand in seinem Magen Glattrochen, welche fast dreimal so breit waren als sein Maul, und wundert sich, wie es ihm möglich wird, mit dem zahnlosen Maule eine so große Beute festzuhalten und hinabzuwürgen, glaubt deshalb, daß der Narwal diesen Rochen vorher mit seinem Stoßzahne durchbohrt und erst nach seiner Tödtung verschlungen habe. Der unhöfliche Seemann vergißt aber dabei wieder das arme Weibchen, welches doch auch leben will. Wahrscheinlich ist, daß der Narwal seine Nahrung im Schwimmen erhascht und durch den Druck seines Maules so zusammenpreßt, daß er sie hinabwürgen kann: gefangene Seehunde wikkeln die Schollen auch erst zusammen wie die Köchin einen Eierkuchen, bevor sie den breiten Bissen als mundgerecht betrachten.

In früheren Zeiten wurden für die Stoßzähne ganz unglaubliche Summen bezahlt. Man hielt die Zähne für das Horn des Einhorns in der Bibel, und deshalb eben setzen die Engländer solchen Zahn dem fabelhaften Einhorn ihres Wappens auf. "Kaiser und Könige", sagt Fitzinger, "ließen sich oft mit dem zierlichsten Schnitzwerke versehene Stäbe daraus verfertigen, welche ihnen nachgetragen wurden, und die kostbaren Bischofsstäbe waren aus solchen Zähnen gefertigt." Je mehr man zu der Überzeugung kam, daß diese Zähne nicht vom Einhorn stammten, verloren sie ihre Wunderkräfte; aber nach Ende vorigen Jahrhunderts fehlten sie in Apotheken nicht, und manche Aerzte wußten ihre Unwissenheit noch immer durch Verordnung von gebranntem Narwalpulver darzulegen. Gegenwärtig betrügen die Holländer bloß noch Chinesen und Japanesen mit den früher so gesuchten Stoffen.