Montag, 30. April 2007

Brehms Tierleben: Wildkatze

Wildkatze

Unter den altweltlichen Katzen geht uns die Wild- oder Waldkatze, der Waldkater, Kuder, Baumreiter (Felis catus) am nächsten an, weil sie die einzige Art ihrer Familie ist, welche selbst in unserem Vaterlande noch nicht ausgerottet wurde. Eine erwachsene Wildkatze erreicht ungefähr die Größe des Fuchses und ist also um ein Drittheil größer als die Hauskatze. Von dieser unterscheidet sie sich auf den ersten Blick durch die stärkere Behaarung, den reichlicheren Schnurrbart, den wilderen Blick und das stärkere und schärfere Gebiß. Als besonderes Kennzeichen gilt die schwarzgeringelte Ruthe und der gelblichweiße Fleck an der Kehle.

Dichte, große, ausgedehnte Wälder, namentlich dunkle Nadelwälder, bilden ihren Aufenthalt; je einsamer ihr Gebiet ist, um so ständiger haust sie in ihm. Felsreiche Waldgegenden zieht sie allen übrigen vor, weil die Felsen ihr die sichersten Schlupfwinkel gewähren. Außerdem bezieht sie Dachs- und Fuchsbauten oder große Höhlungen in starken Bäumen, und in Ermangelung von derartigen Schlupfwinkeln schlägt sie ihr Lager in Dickichten und auf trockenen Kaupen in Sümpfen und Brüchen auf.

Mit Eintritt der Dämmerung tritt die Wildkatze ihre Jagdzüge an. Ausgerüstet mit trefflichen Sinnen, vorsichtig und listig, unhörbar sich anschleichend und geduldig lauernd, wird sie kleinerem und mittelgroßem Gethier sehr gefährlich. "Im scharfen Aeugen selbst bei Nacht, zu welcher Zeit ihre Seher wie brennende Kohlen funkeln", sagt Dietrich aus dem Winckell, "in ebenso scharfen Wittern (-) und im höchst leisen Vernehmen wird sie von keinem Thiere übertroffen", im unbemerklichen Anschleichen, beharrlichen Auflauern und sicheren Springen, füge ich hinzu, gewiß auch nicht. "Wer kennt nicht", so drückt sich entrüstet Winckell aus, "das spitzbübische Schleichen der zahmen Katze, wenn es ihr darauf ankommt, ein armes Vögelchen zu erhaschen? Genau ebenso benimmt sich auch die Wildkatze", wenn sie auf Beute ausgeht.

Im Verhältnisse zu ihrer Größe ist die Wildkatze überhaupt ein gefährliches Raubthier, zumal sie den Blutdurst der meisten ihrer Gattungsverwandten theilen und mehr Thiere, als sie verzehren kann, tödten soll. Aus diesem Grunde wird sie von den Jägern grimmig gehaßt und unerbittlich verfolgt; denn kein Weidmann rechnet den Nutzen, welchen sie durch Vertilgung von Mäusen bringt, ihr zu Gute. Wie viele von diesen schädlichen Thieren sie vernichten mag, geht aus einer Angabe Tschudi's hervor, welcher berichtet, daß man in dem Magen einer Wildkatze die Ueberreste von 26 Mäusen gefunden hat. Die Losung, welche Zelebor vor den von Wildkatzen bewohnten Bauen sammelte und untersuchte, enthielt größtentheils Knochenüberreste und Haare von Marder, Iltis, Hermelin und Wiesel, Hamster, Ratte, Wasser-, Feld- und Waldmäusen, Spitzmäusen und einige unbedeutende Reste von Eichhörnchen und Waldvögeln. Kleine Säugethiere also bilden den Haupttheil der Beute unseres Raubthieres, und da unter diesen die Mäuse häufiger sind als alle übrigen, erscheint es sehr fraglich, ob der Schaden, welchen die Wildkatze verursacht, wirklich größer ist als der Nutzen, welchen sie bringt.

Die Zeit der Paarung der Wildkatze fällt in den Februar, der Wurf in den April; die Tragzeit währt neun Wochen.

Die Jagd der Wildkatze wird überall mit einer gewissen Leidenschaft betrieben; handelt es sich doch darum, ein dem Weidmann ungemein verhaßtes und dem Wilde schädliches Raubthier zu erbeuten. Bei uns zu Lande erlegt man sie gewöhnlich auf Treibjagden. Im Winter, nach einer Reue, wird sie abgespürt, bis zum Baue oder einem Baume verfolgt, mit Hülfe des Hundes ausgetrieben oder festgemacht und dann erlegt; außerdem kann man ihrer habhaft werden, indem man sie durch Nachahmen des Geschreies einer Maus oder des Piepens eines Vogels reizt. Der Fang ist wenig ergiebig, obgleich die Wildkatze durch eine Witterung aus Mäuseholzschale, Fenchel- und Katzenkraut, Violenwurzel, welche in Fett oder Butter abgedämpft werden, sich ebenfalls bethören und ans Eisen bringen lassen soll. Verwundete Wildkatzen können, wenn man sie in die Enge treibt, sehr gefährlich werden. "Nimm dich wohl in Acht, Schütze", so schildert Tschudi, "und faß die Bestie genau aufs Korn! Ist sie bloß angeschossen, so fährt sie schnaubend und schäumend auf, mit hochgekrümmtem Rücken und gehobenem Schwanze naht sie zischend dem Jäger, setzt sich wüthend zur Wehr und springt auf den Menschen los; ihre spitzen Krallen haut sie fest in das Fleisch, besonders in die Brust, daß man sie fast nicht losreißen kann, und solche Wunden heilen sehr schwer. Die Hunde fürchtet sie so wenig, daß sie, ehe sie den Jäger gewahrt, oft freiwillig vom Baume herunter kommt; es setzt dann fürchterliche Kämpfe ab. Die wüthende Katze haut mit ihrer Kralle oft Risse, zielt gern nach den Augen des Hundes und vertheidigt sich mit der hartnäckigsten Wuth, solange noch ein Funke ihres höchst zähen Lebens in ihr ist. So kämpfte im Jura ein wilder Kater, auf dem Rücken liegend, siegreich gegen drei Hunde, von denen er zweien die Tatzen tief in die Schnauzen gehauen hatte, während er den dritten mit den Zähnen festgepackt hielt - eine Vertheidigung, zu der er den äußersten Muth und die größte Gewandtheit bedurfte, und welche gleichzeitig eine hohe Klugheit verräth, da er nur so der Hundebisse sich erwehren konnte. Ein starker Schuß des herbeieilenden Jägers, der die Bestie durch und durch bohrte, errettete die schwer verwundeten Thiere, welche sonst sämmtlich erlegen wären."

Von der eigentlichen Wildkatze sind die bloß verwilderten Hauskatzen wohl zu unterscheiden. Solche trifft man nicht selten in unseren Waldungen an; sie erreichen aber niemals die Größe der eigentlichen wilden, obwohl sie unsere Hauskatzen um vieles übertreffen. In der Zeichnung und an Bosheit und Wildheit ähnelt sie durchaus der Wildkatze.